Vom besonderen Wert des Übefahrplans

In die Tiefe Üben

(Lesezeit: 06:20 Min.)

Wie geht richtiges Üben? Natürlich musst du da auf deine Vorlieben achten und dem folgen, was dir wichtig ist. Doch höre ich als Saxophonlehrer diese Frage immer wieder und denke, dass es eine sehr effektive Möglichkeit gibt, wie du dich deinem Lieblingsstück, völlig unabhängig vom Musikstil, nähern kannst. Ich nenne dies ÜBEFAHRPLAN. Hier ist eine Übersicht:

  • Das Stück in Abschnitte einteilen
  • Jeden Abschnitt einzeln üben und dabei Folgendes beachten:
  1. Tonhöhe
  2. Rhythmus
  3. Puls
  4. Artikulation
  5. Dynamik
  6. Tempo

 

Womöglich erscheint die folgende Erläuterung beim ersten Lesen sehr detailliert. Im Internet findest du viele Anleitungen, die einen leichten und schnellen Erfolg voraussagen und natürlich Spaß dabei versprechen. Für mich geht es nicht um Spaß, sondern um musikalische Erfüllung. Der Weg dorthin macht sicher nicht immer Spaß, denn manchmal muss man sich zum Üben auch überwinden.

Um so mehr sehe ich den Übefahrplan als wichtige Hilfe und Anregung, auch in zeitlich angespannten Momenten oder in unpassender Stimmung das Instrument zur Hand nehmen zu können und zu wissen, was man Üben kann. Ich empfehle sogar, die Erläuterung immer wieder zu lesen und dabei das eigene Üben zu reflektieren. So verhilft dir der Text zu mehr und mehr Selbstständigkeit beim Erlernen von Musik.

Der ÜBEFAHRPLAN beginnt mit einem Blick auf das Musikstück: du suchst nach den Atemzeichen und teilst das Stück dadurch in Abschnitte ein. Solltest du an einigen Stellen unsicher sein, spiele sie vom Blatt und probiere die möglichen Atmungen aus.

Du kannst nun die Struktur des Stückes erkennen und siehst womöglich Wiederholungen oder kleine Unterschiede einzelner Abschnitte. Manchmal zeigt sich, dass du allein durch das Üben des ersten Abschnittes bereits große Teile des kompletten Stückes spielen kannst.

 

Als nächstes beschäftigst du dich mit jedem Abschnitt einzeln und übst ihn auf diese Weise:

Erstens: die Tonhöhe. Natürlich musst du zunächst einmal jeden Ton lesen und greifen können.Mir geht es jedoch darum, wie du von einem Ton zum nächsten kommst.

Du betrachtest daher zunächst deine Fingerbewegung von Ton zu Ton und danach vor allem bei größeren Intervallen den von mir sogenannten Fahrstuhl zwischen den einzelnen Tönen. Damit meine ich, dass du die Resonanzräume deines Körpers, die jeder Ton zum freien Klingen braucht, in dir öffnen kannst.

Wenn der Ansatz beim Übergang von einem zum anderen Ton stabil bleibt, das Zusammenspiel von Fingerbewegung und Fahrstuhl geschmeidig gelingt, kann der Luftstrom frei und ungehindert fließen. Dann reden wir nicht mehr von einzelnen Tönen, sondern von Klängen.

Lies hierzu auch meinen Blogbeitrag „Vom besonderen Wert der täglichen Saxophonübungen“. Hier beschreibe ich die sogenannten VIER KLANGZENTREN Luftstrom, Ansatz, Fingerbewegung und Fahrstuhl.

 

Zweitens: der Rhythmus. Verstehe Rhythmus als Folge von Impulsen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten.

So sind Viertel doppelt so schnell wie Halbe Noten. Dabei ist der Beginn einer Viertel oder Halben der Impuls, der einen Klang für die Dauer des Notenwertes auslöst. Der Impuls kann zum Beispiel die Fingerbewegung sein. In diesem Falle konzentriere dich darauf, zu welchem Zeitpunkt die Fingerbewegung von einem zum nächsten Ton stattfindet. Die Fingerbewegung zwischen zwei Tönen ist immer schnell, die Frage ist, wann die nächste Bewegung folgt.

Veranschaulichen kann ich dir das mit den „Klangbalken“. Zu Beginn des Klangbalkens findet der Impuls statt, das heißt die Fingerbewegung. Die Länge des Klangbalkens zeigt die Dauer der Auswirkung dieses Impulses: jetzt hat der Klang eine bestimmt Tonhöhe. Das Ende des Klangbalkens ist gleichzeitig der Beginn des nächsten Klanges.

 

Drittens: der Puls. Das ist der Herzschlag der Musik.

Er ist das stabile Grundgerüst der Musik und ermöglicht das Zusammenspiel mit Anderen. Der Dirigent zeigt den Puls an. Wenn der Rhythmus in den Fingern liegt, spüren wir den Puls in den Beinen, wenn wir auf dem Platz zur Musik gehen. Das Gehen hilft uns zunächst, den zeitlichen Verlauf des Rhythmus körperlich zu spüren und diesen präziser umzusetzen.

Danach kümmern wir uns um die Betonungen, die jede Taktart vorgibt. Dieser Überschritt könnte sehr aufwendig sein. Lohnt sich aber, wenn wir verstehen, dass die Beherrschung des Pulses die Musik verständlich macht und uns ermöglicht, mit anderen zusammen zu spielen. Daher sehe ich das Erreichen dieses dritten Schrittes als Voraussetzung einer ersten Probe in einer Gruppe an.

 

Viertens: die Artikulation. War der Puls der Herzschlag der Musik, so ist die Artikulation die Sprache der Musik.

Du erzählst beim Spielen immer eine Geschichte, sei es die der Komponist*in des Stückes oder deine eigene, zum Beispiel beim Improvisieren. Die Artikulation macht deine Geschichte deutlich und verständlich. Du erreichst diese Transparenz durch den Zungenstoß und die Art und Weise, wie du ihn einsetzt.

Generell findet bei der Zungenbewegung ein Wechsel zwischen Spannung und Entspannung der Zungenmuskulatur statt, weshalb sie auch eine rhythmische Tätigkeit ist, wie die der Finger auch. Nur ist sie eben nicht immer parallel zur Fingerbewegung, sondern hat einen eigenen Rhythmus.

Wir klären zunächst, wie die Zunge arbeitet, das heißt, mit welchem Teil der Zunge wir das Blatt berühren („anstoßen“) oder wie wir einen Akzent oder Staccato spielen. Danach koordinieren wir die Zungentätigkeit mit der Fingerbewegung. Schließlich bringen wir sie in Beziehung zum Gehen, so wie wir die Fingerbewegung mit den Schritten verbunden haben, um den zeitlichen Verlauf der einzelnen Impulse präziser umsetzen zu können.

 

Fünftens: die Dynamik. Sie zeigt die Struktur des Musikstückes.

Sie sagt uns, wo wir laut oder leise spielen oder lauter oder leiser werden. Bei der Betrachtung einzelner Abschnitte kannst du erkennen, dass sich die Lautstärke sinnvoll von Abschnitt zu Abschnitt ändert oder gleich bleibt. So strukturiert sie das Stück. Wenn du laute Stellen wirklich kraftvoll und leise ganz zart spielst, wirst du den roten Faden durch das Stück erkennen.

Ich finde, dass laut und leise gar nicht ausreichen, um die Dynamik zu beschreiben. Versuche, Adjektive zu finden, die ein forte oder piano auch beschreiben können. Wenn du ein piano geheimnisvoll statt nur leise spielst, klingt die Stelle schon viel ausdrucksvoller. Dann zeigt sich, dass die Dynamik den Charakter der Musik verdeutlicht.

 

Sechstens: das Tempo. Es bezeichnet die Geschwindigkeit des Pulses.

Mir begegnet von Schüler*innen, wenn sie ein neues Stück beginnen, sehr häufig zuallererst die Frage: „Wie schnell geht das?“ Tatsächlich ist das erst der letzte Punkt, den wir bei einem Abschnitt beachten.

Wir müssen zuerst den Puls körperlich spüren, bevor wir über das Tempo sprechen können oder auch ein Metronom verwenden können.

Über den Puls gestalten wir Tempoänderungen wie zum Beispiel ein Accelerando. Das Tempo erkennen wir durch Tempobezeichnungen. Andante bedeutet zum Beispiel gehend, ein schlenderndes bis flüssiges Schritttempo. Das Tempo kann auch durch eine Metronomzahl angegeben werden.

Ein schnelles Tempo erreichen wir, wenn wir eventuell mit Hilfe eines Metronoms zunächst ein stabiles, langsames Tempo spielen können und es in Stufen bis zum Zieltempo beschleunigen („Tempopyramide“). Entscheidend ist, dass keiner der vorangegangen Übeschritte dadurch undeutlich wird. Sonst wird die Musik zum Spektakel. Wir wollen aber ausdrucksvoll spielen und durch das passende Tempo den Charakter, den wir vermitteln wollen, verstärken.

 

Diese sechs Übeschritte wiederholst du beim zweiten Abschnitt. Womöglich geht dies dann schon viel schneller, weil du manches wiedererkennst.

Danach verbindest du die beiden Abschnitte und achtest auf die Atmung. Erst dann kümmerst du dich in gleicher Weise um den dritten Abschnitt und verbindest diesen schließlich mit dem zweiten, etc.

 

Bei jedem einzelnen Übeschritt kannst du nachspüren, welche Adjektive dir dazu einfallen, um den Charakter zu beschreiben. In der Art, wie ich s bei der Dynamik erläutert habe. Wenn dem Stück zum Beispiel eine Molltonart zugrunde liegt, kannst du schon im ersten Schritt „Tonhöhe“, ohne auf den Rhythmus zu achten, spüren, dass es sicher kein fröhliches Stück ist.

Wenn du dieses Nachspüren und das Benennen des Charakters durch Adjektive bei jedem Überschritt anwendest, kommst du tiefer und tiefer in die Musik hinein und dies schon beim ersten Abschnitt! Dir fallen die nächsten Abschnitte danach sicher viel leichter zu erlernen, weil du schon eine genaue Vorstellung des Charakters der Musik hast.

 

Versuche, den ÜBEFAHRPLAN immer umzusetzen, dann ist dir klar, was du als nächstes üben musst um die Musik tiefer und tiefer zu erleben und zu genießen.

In „Mein Saxophon Buch“ führe ich dich Schritt für Schritt an den ÜBEFAHRPLAN heran, indem ich Parameter für Parameter ergänze und dir Übungen zu jedem einzelnen Schritt zeige.